Eigentlich wollte ich ja was ganz ANDERES machen. Nämlich diese alle Texte lesen, euch kurz zusammenfassen und einen Blogbeitrag drüber schreiben. Sozusagen eine Rezension zu dem Zweck, dass ich mich auch vollständig durchkämpfe.
Bevor ich aber - mit einer mittelgroßen Tasse Kaffe im Schlepptau - daran ging, streifte ich noch ein bisschen durch Input aus gestern, nachdem ich mich ins Bett verzogen hatte, und stieß auf diese Frage von dem @spani3l. MOOC-Texte, ich kann nicht anders, ihr werdet auf das nächste Wochenende verschoben.
Tausend kleine Mosaik-Steinchen blitzen vor meinem geistigen Auge auf, wie ich als anders Seiende in einem Diskurs behandelt, oder wie ich einem Querdenker während eines Diskurses begegnet. Nach etwa 2 Stunden draufstarren, formiert sich ein Muster.
Erfahrung 1: Diskursgemeinschaften, wer ist denn Teil einer Diskursgemeinschaft?
Schon gleich in meinem ersten Semester habe ich irgendwie verstanden, dass es sowas wie eine Diskurs-Gemeinschaft gibt, die Teilnahme an dieser/diesen wurde in Seminaren schon eimal eingeübt. Allerdings habe ich es nie (und bis heute) geschafft, wirklich Teil einer solchen universitären Diskursgemeinschaft zu werden, und dies m.E. aus mehreren Gründen.
- Ich denke zu langsam. Fällt mir die passende gut durchdachte und formulierte Erwiderung auf eine Frage/eine Aussage im Seminar ein, ist die Gruppe schon wieder zwei Gedankengänge weiter. Ich lasse meinen Einwand los und versuche wieder zu folgen.
- Ich lese zu wenig. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass ich mir alle Namen und Werke in meinem ersten Seminar aufgelistet habe und mich dann die ersten Semesterferien in Unmengen von pädagogischen Klassikern, Theoretikern und auch die Gedankengänge von Fromm und Freud eingelesen habe. Aber da hatte ich ja auch Zeit und keinen Vollzeit-Job. Ich denke immer noch, man müsse die Literatur, auf die sich jemand bezieht erst mal lesen. Und nachhaken, wenn der oder die einen Begriff benutzt, welche Definition denn genau dahinter steht. (Das kann nämlich nach Fachgebiet und nach „Schule“ höchst unterschiedlich sein).
[Übrigens habe ich es auch noch nicht geschafft, hier alle Literatur nachzulesen, aber das werde ich noch tun!]
Erfahrung 2: Ich begegne Spok und er betrachtet mich als eine fremde Lebensform
Manchmal während meiner ersten Semester bin ich über meinen Schatten gesprungen und habe einen Satz (selten elaborierter formuliert) aus meiner Erfahrung heraus formuliert. Typische Reaktion der Studierenden: herzhaftes Lachen. Richtig alte Lehrende (meistens Männer) hatten darauf ein süffisantes Lächeln auf den Lippen, starrten mich ein wenig an… und sagten sowas wie „Interessant“. (Was mich immer an Spok erinnerte.)
Beides hat mich nicht gestört. Nein. Im Gegenteil. Ich war eigentlich sehr erfreut, mich eingebracht zu haben.
Erfahrung 3: Sich einem Lager zuschlagen
Manchmal halte ich mir Einwände vom Leib, indem ich auf Durchzug schalte. Dies geschieht insbesondere, wenn ich versuche, eine Vorgehensweise zu umreißen, wie ich vorhabe eine Frage zu beantworten.
Ich:
Also das Material liegt in verschiedenen Formen vor, ich bringe es erst einmal in eine Form, nämlich Text und speise diesen in MAXqda ein. Wenn alles drin ist, habe ich dann ungefähr - wäre der Text ausgedruckt - 23 dicke Ordner Rohmaterial, das es jetzt zu beackern gilt.
Er:
Ja, aber das Rohmaterial ist doch höchstens von 51 Menschen produziert. n=51 ist zu niedrig. Außerdem ist das ganze doch gar nicht vergleichbar! Das ist doch gar nicht auswertbar. Pass mal auf, … Du schmeißt das besser weg und machst einen Fragebogen, wo man ankreuzen muss. NICHTS schreiben lassen. Das ist des Teufels!
Ich:
Ja. Beantworte Du Deine Fragen und ich meine. Ja. Ich schmeiss das Zeug schon weg, aber verpiss Dich jetzt SOFORT UND LASS MICH IN RUHE, Du quantitatives Biest, Du! 😉
Erfahrung 4: Ein neues Lager begründen
Man kann als Außenseiter natürlich gleich eine ganz neue „Schule“ begrüden. Das haben z.B. m.E. Luhmann (mit seiner Systemtheorie) gemacht, oder auch Oevermann (mit seiner Objektiven Hermeneutik).
Was dazu notwendig ist?
- Ein Vorgehen, das erstaunliche Forschungsergebnisse erbringt.
- Und dann es schaffen, dass Menschen (Wissenschaftler) sich dieses Vorgehen zu eigen machen. Vorteil der Wissenschaftler: Sie können noch weiße Flecken innerhalb eines gesteckten Rahmens beackern und so zu akademischen Weihen gelangen.
- Am besten nach innen (In-Group) sich zwar gegenseitig herausfordern, aber so, dass man sich gegenseitig fördert. Nach außen einen Feind suchen, der aber auf dem selben Feld spielt. Oevermann z.B. die Tiefenhermeneutik.
- Man muss vorher jedoch in gewissem Maße im Wissenschafts-System integriert gewesen sein.
- Und es macht irre viel Arbeit. Luhmann war fleißig (hat viel viel viel geschrieben), Oevermann nicht so viel, aber dafür ist er von charismatischer Persönlichkeit und lebt sein Vorgehen in Forschergruppen vor und aus.
Erfahrung 5: Dissens kontrolliert zulassen und wertschätzen
Das wär‘ natürlich das beste. Soviel Dissens zulassen, wie man vertragen kann und es für das eigene gedankliche Weiterkommen fruchtbar machen. Und das dem Gegenüber auch wertschätzen.
Ergo
- Dissens kann ich leichter zulassen, wenn ich fest im Sattel sitze (also mich im Uni-System nicht erst etablieren muss oder ganz unten angesiedelt bin).
- Einwände zulassen macht Arbeit. Weil ich muss mich damit auseinandersetzen und ggf. nachlesen.
- Einwand muss irgendwie an mein Gedanensystem andockbar sein, sonst nutzt er mir nichts, weil er sich wie aus anderer Welt anfühlt. Ich könnte also nur die Welt wechseln.
- Und manchmal muss man den auch aus Zeitgründen abbügeln.
Ich geh‘ lesen. Und wagt euch bloss nicht, mich nochmals so zu inspirieren! 😉